Podiumsdiskussion „Werkstätten für behinderte Menschen: Bremser oder Teil einer inklusiven Arbeitswelt?“ am 01. November 2022
Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) stehen in letzter Zeit vermehrt in der Kritik, nicht zuletzt auch durch die Petition von Lukas Krämer, der den Mindestlohn für Menschen in Werkstätten fordert. Die WfbM sollen die Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, aber nur ein Bruchteil schafft den Sprung dorthin.
Aus Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist zweifelhaft, ob das System der WfbM menschenrechtskonform ist. Eine Überarbeitung scheint schon länger überfällig. Mehrfach wies der UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinen Berichten bereits darauf hin, dass Deutschland eine Ausgangsstrategie erarbeiten muss und Anstellungen für Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt schaffen muss. Die LAG SH Sachsen nahm daher den aktuellen Diskurs und die Oppositionsanträge aus dem Bundestag zum Thema inklusiver Arbeitsmarkt zum Anlass, in der diesjährigen Podiumsdiskussion u. a. folgenden Fragestellungen auf den Grund zu gehen:
- Haben WfbM eine Zukunft in einer inklusiven Gesellschaft?
- Wie müssen sie gestaltet sein?
- Wie können mehr behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt gelangen?
Ziel der Veranstaltung sollte sein, Politik und Betroffene zusammenzubringen und die Forderungen und Bedürfnisse von Werkstattbeschäftigten sichtbar zu machen, ohne ein abschließendes Ergebnis zu präsentieren.
Sowohl auf der Bühne als auch im Publikum saßen Menschen mit und ohne Behinderungen. Unsere Diskussionspartner waren:
- Dr. Markus Reichel MdB, Dresdner Abgeordneter und Mitglied der CDU im Bundestag und im Ausschuss Arbeit,
- Moritz Glaser, Leiter der Luby Service Werkstatt Dresden,
- Volker Hanke, Werkstattrat der inpuncto Werkstätten Dresden,
- Frank Leuschner, Experte beim Projekt Train the Trainer sowie Außenarbeitsplatzbeschäftigter und
- Marie Lampe, Referentin beim Projekt JOBinklusive.
Die Diskussion stieß bereits im Vorfeld auf großes Interesse. Mehr als siebzig Menschen hatten sich angemeldet. Das zeigt, dass das Thema für viele relevant und wichtig ist.
Impulsvortrag Projekt QuaBIS Dresden
Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch Frau Fink und Frau Bilir vom Projekt QuaBIS, die von ihren Erfahrungen in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) erzählten. Als positive Aspekte zählten sie auf, dass sie ihre Freund*innen sehen konnten und auf Ausflügen und Festen viel Spaß hatten. Als negativ empfanden die beiden Frauen, dass in einer WfbM viel Druck herrscht, weil man Aufträge termingerecht erledigen muss, und dass es oft Streit gibt. Außerdem müssen die Werkstattarbeitenden viel sitzen und erleben wenig Abwechslung. Die Arbeit ist oft laut, stressig und langweilig. Unterhalten durften sich Frau Fink und Frau Bilir nur in den Pausen.
Seitdem Frau Fink und Frau Bilir beim Projekt QuaBIS arbeiten, haben sie ein Büro und einen eigenen Schreibtisch. Sie wollen nicht wieder in einer WfbM arbeiten, denn bei QuaBIS erfahren sie viel Abwechslung, einen Teamgeist, und sie bringen anderen Menschen etwas bei. Sie können mitdiskutieren, lernen dazu und werden als gleichwertige Teammitglieder behandelt.
Diskussion
Durch die durchmischte und gegensätzliche Zusammensetzung des Podiums entstand eine rege Diskussion. Bereits zu Beginn kam es zu konträren Meinungen. Aus dem Vortrag der QuaBIS-Referentinnen ergab sich die Frage, warum Werkstätten als Schonraum bezeichnet werden, wenn dann trotzdem hoher Druck herrsche. Dazu äußerte Werkstattleiter Moritz Glaser: „Es gelten schon deutlich andere rechtliche Rahmenbedingungen in einer Werkstatt als auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das fängt an bei Kündigungsschutz, Arbeitsleistungsfähigkeit […]; es ist nicht so, dass die Arbeitsbedingungen in einer Werkstatt die gleichen sind wie auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das heißt nicht, dass es keinen Leistungsdruck gibt; dieser ist aber deutlich anders.“ Als Beispiel zählt er Arbeitszeitmodelle und personenzentrierte Arbeitsplatzgestaltung auf. „Da zu sagen, weil Druck ist, ist das der gleiche Druck wie auf dem ersten Arbeitsmarkt, ist, bei allem Respekt, vollkommen falsch.“
Auf die Frage, ob die CDU das System der Werkstätten ändern möchte, sagt Dr. Reichel: „Die Werkstätten sind ein wichtiger Teil unseres Systems. Wir wollen das System nicht grundsätzlich ändern. Aber wir sehen natürlich auch, dass die Werkstätten eine ganze Menge Druck haben. […] Ein gesunder Druck ist Teil eines ganz normalen Arbeitslebens. Was wir nicht haben dürfen, ist, dass es zu viel wird. Und deswegen ist die Herausforderung für die Politik, dass wir die Werkstätten unterstützen, dass sie das Geld so verdienen können, wie sie es brauchen, und nicht am Ende vielleicht ihre stärksten Mitarbeiter zu sehr unter Druck setzen, damit sie das Geld verdienen. […] Was momentan fehlt, ist, dass eine Werkstatt belohnt wird, wirklich belohnt wird, wenn sie es schafft, einen Mitarbeiter für den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten und das führt zu einer Menge von Folgeproblemen.“
Marie Lampe vom Projekt JOBinklusive: „Wir kritisieren vor allem, dass es ein geschlossenes System ist, natürlich gibt es viele verschiedene Werkstätten und nicht alle gehören zu großen Trägern, aber wenn das so ist, dann ist es meist in sich geschlossen. Sie arbeiten in der Werkstatt, wohnen in der dazugehörigen Wohnstätte, und das Leben findet nicht in der Gesellschaft statt, das ist nicht inklusiv. Und dann auch die niedliche Entlohnung […] für eine Arbeit, die wirtschaftlich verwertbar sein muss.“
Frank Leuschner arbeitet im Restaurant Alex in Dresden im Rahmen eines Außenarbeitsplatzes. Er sagt dazu: „Das Restaurant ist schon sehr inklusiv, es arbeiten dort Menschen mit und ohne Behinderung. Was mich stört, ist, dass die Leute ohne Beeinträchtigung mehr Lohn kriegen, obwohl wir teilweise wirklich dieselbe Arbeit machen; Cocktails mixen, kassieren. Gut, die Leute ohne Behinderungen haben mehr Verantwortung, aber ich sehe es schon als störend, dass wir für die gleiche Arbeit weniger bezahlt werden.”
Volker Hanke arbeitet gern und engagiert in seiner Werkstatt im Metallbereich. Er sagt: „Die meisten Außenarbeitsplätze sind wie auf dem freien Arbeitsmarkt, die arbeiten genauso gut wie in den Firmen. Wir sind leistungsfähig und selbstständig, aber kriegen eben wie vorhin gesagt weniger Lohn. Und das ist das Ungerechte.“
Publikumsmeinungen
Auch das Publikum diskutierte rege mit. So wurde beispielsweise mehrfach geäußert, dass der Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderungen ermöglichen sollte, darin einen Platz zu finden. Des Weiteren wurden die Außenarbeitsplätze hervorgehoben; es solle viel mehr von ihnen geben. Außerdem solle der Kommunale Sozialverband Sachsen Prämien nicht mehr einziehen. Diese sollen den Werkstattbeschäftigten zur Verfügung stehen. Betont wurde auch, dass die WfbM wieder stärker ihrem Auftrag als Bildungsträger nachkommen sollen und mehr Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vermitteln sollen.
Unter den Werkstattbeschäftigten im Publikum herrschten unterschiedliche Meinungen. Nicht alle finden die WfbM von Grund auf schlecht. Oft wird das Gemeinschaftsgefühl als besonders positiv hervorgehoben. Allerdings gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl auch auf dem ersten Arbeitsmarkt. Werkstattbeschäftigte auf einem Außenarbeitsplatz zeigten sich zufriedener mit ihrer Arbeit, empfanden ihre niedrigere Entlohnung allerdings als unfair, da sie die gleiche Arbeit leisten wie ihre Kollegen. Der geringe Lohn war der Hauptkritikpunkt der Werkstattbeschäftigten; die meisten fühlen sich dadurch nicht anerkannt.
Dieser Grundtenor geht auch aus dem kürzlich veröffentlichten zweiten Zwischenbericht der Entgeltstudie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hervor. Die große Mehrheit der befragten Werkstattbeschäftigten zeige sich „zwar mit ihrer Tätigkeit und der Arbeitssituation, aber nicht mit ihrer Entgeltsituation zufrieden“ (S. 14). Die Studie dient dazu, ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem in Werkstätten für behinderte Menschen zu entwickeln. Es wird auch untersucht, wie Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessert werden können.
Raúl Krauthausen, Aktivist und Gründer des Vereins Sozialhelden e. V., meinte dazu in einem Podcast von Übermedien: „Mein Punkt ist, dass Werkstätten ihren Auftrag verfehlen, Menschen mit Behinderungen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und das davon v. a. nicht behinderte Menschen profitieren, nämlich Unternehmen, Automobilkonzerne usw. und dass 320.000 Menschen in Deutschland, die in Werkstätten beschäftigt sind, insgesamt einen Umsatz von 8 Milliarden Euro erwirtschaften, aber letztendlich die Gelder nicht bei den Beschäftigten ankommen, sondern eben im Wohlfahrtssystem. Das sind in dem Fall Caritas, Lebenshilfe, Diakonie usw. […] Dazu kommt noch, dass dadurch, dass die Beschäftigten so wenig verdienen, sie Grundsicherung beziehen, d. h. der Staat bezahlt nicht nur die Werkstätten dafür, dass sie behinderte Menschen beschäftigen, sondern der Staat zahlt auch noch Grundsicherung für die Beschäftigten, weil sie zu wenig verdienen.“
Fazit
Die Veranstaltung war teilweise emotional sehr aufgeladen. Uns hat das vor allem eins deutlich gemacht: In der Debatte um die Werkstätten vergessen wir allzu oft die wichtigsten Menschen. Nämlich die, die auch in einer Werkstatt arbeiten. Selten werden sie nach ihren Wünschen und Bedarfen gefragt. Dabei heißt es doch: “Nichts über uns ohne uns!”
In der Werkstattdebatte geht es nicht darum, die WfbM von heute auf morgen abzuschaffen. Jedoch hat Deutschland die UN-BRK ratifiziert und sich damit verpflichtet, allen Menschen das Recht auf eine freie Wahl des Arbeitsplatzes in einem für alle zugänglichen Arbeitsmarkt zu ermöglichen sowie das gleiche Entgelt für gleichwertige Arbeit sicherzustellen. Damit ist das System der WfbM nicht mit der UN-BRK zu vereinbaren.
Daher arbeitet die LAG SH Sachsen bereits an einem Folgeformat für das Jahr 2023. Dabei sollen wiederum Menschen ohne Behinderung, Politiker*innen sowie Menschen, die in einer Werkstatt arbeiten, zusammengebracht werden. Ziel ist es, die Bedürfnisse der Werkstattbeschäftigte sichtbar zu machen und gemeinsam nach guten Lösungen zu suchen. Es scheint aber auch nötig, die Werkstattbeschäftigten über ihre Menschenrechte zu informieren, ihnen Angst zu nehmen und gemeinsam darüber zu sprechen, was sich behinderte Menschen von einem inklusiven Arbeitsmarkt erwünschen. Sicherlich dürfte der eine oder andere Wunsch, zum Beispiel weniger Leistungsdruck, auch Menschen ohne Behinderungen zugutekommen.
Auf unserem YouTube-Kanal finden Sie die Aufzeichnung der Podiumsdiskussion.
Autorin: Anne Hiecke, LAG SH Sachsen