Stellungnahme: Beteiligungsportal zur Fortschreibung des Aktionsplanes Sachsen
Inklusion bedeutet nicht, aus irgendeinem Büro heraus nach dem Lehrbuch zu entscheiden“
Im März diesen Jahres wies die LAG SH Sachsen in einem Artikel auf die Möglichkeit des Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt (SMS) hin, sich als Bürger an der Fortschreibung des Aktionsplanes zur Umsetzung der UN-BRK zu beteiligen. Bis zum 31. Mai konnten im Beteiligungsportal des Freistaats Sachsen Kommentare und Stellungnahmen abgegeben werden. Insgesamt gingen 341 Beiträge ein. Die LAG SH Sachsen hat diese durchgearbeitet und fasst in diesem Artikel die dringendsten Problemfelder und häufig genannte Themenbereiche zusammen.
Barrierefreiheit im öffentlichen und privaten Raum
Wiederholt wird in den Beiträgen die fehlende Barrierefreiheit angeprangert, v. a. in
- Arztpraxen
- Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) und Schienenpersonennahverkehr (SPNV)
- öffentlichen Verkehrswegen
- Wohnraum
Entgegen der im Personenbeförderungsgesetz festgelegten vollständigen Barrierefreiheit des ÖPNV bis zum 1. Januar 2022 ist dieser noch nicht flächendeckend barrierefrei. Auch das Recht auf freie Arztwahl kann von Menschen mit Behinderungen aufgrund mangelnder Barrierefreiheit vieler Praxen nicht erfüllt werden. Barrierefreier und gleichzeitig bezahlbarer Wohnraum ist ebenso schwierig zu finden. Hier gilt es daher, nachzusteuern und bestehende Gesetzeslagen stärker zu forcieren sowie Fördermittel für z. B. den Umbau von Arztpraxen zu bewerben und attraktiv zu gestalten, damit entsprechende Anreize gegeben sind.
In diesem Zusammenhang zu nennen ist auch der Ruf nach mehr inklusiven Wohngemeinschaften und weiteren Alternativen zum Heim für Menschen mit Behinderungen. Laut einiger Beiträge stützen sich solche Wohngemeinschaften bisher v. a. auf Elterninitiativen und sind sehr zeitaufwendig in der Beantragung.
Von Überforderung und mangelnder Unterstützung
Den Kommentaren ist zu entnehmen, dass Eltern und pflegende Angehörige oftmals allein gelassen fühlen, was in Überforderung resultiert. Manche wünschen sich mehr Unterstützung und Beratung, was einem Menschen mit Behinderung zusteht. Hier ist das Angebot u. a. der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen auf behördlicher Ebene zu stärken. Die Beantragung eines Grades der Behinderung (GdB) oder auch der Umgang mit Krankenkassen ist weiterhin sehr kompliziert. Auch die Angehörigenpflege erfährt zu wenig Beachtung und Unterstützung und wird oft erschwert, obwohl sie doch sehr wertvoll ist.
Der Kampf mit den öffentlichen Stellen im Gesundheits- und Sozialwesen
Im Zuge des Beteiligungsportals werden auch individuelle Erfahrungen geschildert. So z. B. erzählt ein Rollstuhlfahrer im ländlichen Raum, welcher ALG II bezieht und aufgrund fehlender barrierefreier ÖPNV-Angebote auf ein Auto angewiesen ist: „Auf eine weitere Nachfrage meinerseits wurde mir […] geantwortet: ‚Dann haben Sie halt kein Auto mehr‘ und ‚Sie haben doch einen Rollstuhl‘. Daraufhin habe ich […] gefragt, […], wie ich meine Einkäufe damit transportieren soll – ich benötige beide Arme zum Fortbewegen. Darauf kam nur ein Achselzucken.“
Aus vielen der Beiträge geht Nachlässigkeit und oft nicht menschenzentrierte Entscheidungen in den Behörden und öffentlichen Stellen im Sozial- und Gesundheitswesen hervor. So berichtet die Mutter eines autistischen Kindes: „Es wird alles erschwert und in die Länge gezogen und anstatt angemessen schnelle Hilfe zu bekommen, bekommt man Steine in den Weg gelegt oder wird direkt in eine Schublade gesteckt. Wie oft musste ich hören: ‚Inklusion hat Grenzen‘, ohne dass mein Kind jemals von irgendwem gesehen wurde oder gesehen werden wollte!“
Eine weitere Mutter schreibt dazu: „Inklusion bedeutet nicht nach einem Lehrbuch zu entscheiden aus irgendeinem Büro heraus, sondern individuell auf den Menschen zu schauen.“
Auch verkomplizierte Antragsverfahren stellen ein großes Problem dar. Ein Elternteil führt dazu aus: „Wenn ein Kind mit Behinderung eingeschult wird, benötigt es für jedes neue Schuljahr erneut eine Bewilligung der Kostenübernahme für Leistungen der Eingliederungshilfe (zumindest im Erzgebirgskreis). Von der Schule bzw. der betreuenden Einrichtung bekommt man keine freundliche Erinnerung, sondern da wird sofort gedroht, was man in Rechnung gestellt bekommt, wenn man nicht rechtzeitig seinen Antrag eingereicht hat.
Dass man in Abständen überprüfen muss, ob die entsprechenden Voraussetzungen noch gegeben sind, ist einleuchtend. Dass ich jedoch für mein Kind jedes Mal einen kompletten Antrag neu ausfüllen muss (alle Nachweise sollen wiederum erbracht werden), obwohl alle Daten dem Landratsamt vorliegen, ist unverständlich. Schließlich ist alles gespeichert. Hier gibt es unbedingten Handlungsbedarf.“
Des Weiteren wird oft das komplizierte Verfahren zur Bewilligung von ärztlich verordneten Hilfsmitteln, das Verhalten des Sozialamts zur Anerkennung eines GdB sowie lange Bearbeitungszeiten, häufig gefolgt von Ablehnung und anschließenden Klagen mit langjährigen Gerichtsverfahren, beklagt. Dazu führt ein Kommentator aus: „Sachsen ist bekannt für sein sehr restriktives Verhalten zur Anerkennung der GdB’s (das ist auch die Aussage von entsprechenden Fachleuten aus unterschiedlichen Reha-Kliniken).“
Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung
Die mit dem BTHG gesetzlich geregelte gemeinsame Inanspruchnahme von Leistungen (SGB IX § 116 (2)), das sogenannte Poolen, scheint den Kommentaren nach zu urteilen ebenfalls ein häufiger Ursprung von UN-BRK-widrigen Praktiken zu sein. Dabei sagt doch bereits § 1 des SGB IX eindeutig aus:
Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.
Jedoch tauchen immer wieder Beiträge von verzweifelten oder verärgerten Elternteilen auf, die kritisieren, dass die Leistungsträger nicht verständnisvoll und im Sinne der Menschen mit Behinderungen agieren. Oft wird zu wenig persönliche Assistenz bzw. persönliches Budget bewilligt, sodass es dazu kommt, dass z. B. WG-Bewohner alles gemeinsam machen müssen: sei es Sport, ein Kinogang, Treffen mit Freunden oder gar ein Urlaub. Ist das Selbstbestimmung laut UN-BRK?
Der Umgang mit Behörden
Aus den Beiträgen geht hervor: Behördenvorgänge müssen dringend erleichtert werden. Beispielsweise sollten nicht jedes Jahr erneut Anträge mit kompletten Unterlagen eingereicht werden müssen. Um die Aktualität der Voraussetzungen zu überprüfen, genügen evtl. auch nur einzelne Unterlagen (z. B. ärztliche Gutachten). Zudem müssen die Mitarbeiter*innen unbedingt für einzelne Behinderungsarten sensibilisiert werden. Insbesondere müssen die Entscheidungen zur Bewilligung von Leistungen und Hilfsmitteln nicht mehr wirtschaftlich basiert, sondern menschenrechtlich orientiert sein. Den individuellen Schilderungen nach zu urteilen, fehlt es hier offenbar an Verständnis bei den Behörden. Eine Mutter sagt z. B. dazu: „Grundlegendes Wissen über den Umgang mit Autisten fehlt im öffentlichen Leben, besonders im Gesundheitswesen und in öffentlichen Stellen.“
Im SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, kollidiert an diversen Stellen das Wunsch- und Wahlrecht und das Recht auf Selbstbestimmung mit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit. Formulierungen wie im
§ 8 Abs. (3) Leistungen, Dienste und Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung
stehen im starken Kontrast zu
§ 123 Abs. (2) […] Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Ob es nun an Menschlichkeit mangelt, Einzelfälle sind oder aber auf die Formulierungen in Gesetzen zurückzuführen ist, kann objektiv nur eine Untersuchung der Lage in den sächsischen Behörden ergeben. Auch das kann eine Maßnahme für den Aktionsplan sein. Dass GdB’s, Hilfsmittel und ähnliche Leistungen erst über mehrere Jahre hinweg eingeklagt werden müssen, ist kein Zeugnis für gelungene Inklusion, sondern verstärkt das Bild einer ausgrenzenden und diskriminierenden Struktur.
Weitere Beiträge
Immer wieder finden sich auch konkrete Vorschläge zu den Handlungsfeldern Arbeit und Bildung wieder, so z. B. die Integration von inklusionsspezifischen Themen im Rahmen der Ausbildung und Hochschulbildung. Mit dem Antrag der Fraktionen CDU, BÜNDNISGRÜNE und SPD: „Sonderpädagogische Förderung und Inklusion an sächsischen Schulen voranbringen“ (Drs 7/4652) beauftragte der Landtag im März 2021 die Staatsregierung damit, den Beruf des Sonderpädagogen zu stärken und in den Lehramtsstudiengängen die Themen sonderpädagogischer Förderbedarf und inklusive Bildung mehr zu verankern. Die weitere Entwicklung hier bleibt abzuwarten, geht in jedem Falle aber immer noch zu langsam vor sich.
Ein Kommentator stellt unterdessen fest: „Insbesondere bei der Beantragung einer Arbeitsplatzausstattung sehe ich noch großen Handlungsbedarf. Oft ist es so, dass Arbeitgeber gerne Menschen mit Behinderung einstellen möchten, sich jedoch scheuen, da der Aufwand und die Wartezeit für eine Arbeitsplatzausstattung unheimlich hoch sind. Oft läuft es so, wenn man keine Arbeitsplatzausstattung hat, bekommt man auch keinen Job. Ohne Job keine Hilfsmittel für die Arbeit, ohne Arbeit keine Ausstattung für einen Arbeitsplatz. Wenn man dieses Verfahren beschleunigen/vereinfachen könnte, würden sicherlich mehr Menschen mit Behinderung in ein Arbeitsverhältnis gebracht werden können.“
Auch die fehlenden Einkaufswagen für Rollstuhlfahrer*innen stellen für eben diese Gruppe ein Problem dar. Ein Beitrag bringt dazu auch einen konkreten Vorschlag: „Elektrisch fahrende Einkaufswagen in der richtigen Höhe, welche über eine einfache Fernbedienung zu steuern sind, ähnlich wie ein ferngesteuertes Auto für Kinder.“
Des Weiteren wird wiederholt auf die dringend notwendige Fachkräftesicherung in der Eingliederungshilfe hingewiesen.
Kritik und Kommentar der LAG SH Sachsen
Der Landesbeauftragte für Inklusion der Menschen mit Behinderung hat in der Vergangenheit bereits des Öfteren festgestellt, dass das Budget für Arbeit und Ausbildung in Sachsen dringend ausgebaut werden muss. Das Budget ist ein gutes Mittel, um Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen entgegenzuwirken. In Sachsen wird es allerdings noch viel zu selten verwendet. Gründe können dabei einerseits die Abwehrhaltung und Desinformation der sächsischen Behörden sein. Andererseits ist es auch möglich, dass Menschen, die Anspruch auf ein derartiges Budget haben, nicht entsprechend informiert und unterstützt werden. Daher stimmt die LAG SH Sachsen Herrn Welsch zu und befürwortet sein Anliegen ausdrücklich.
Grundsätzlich gibt es in den sächsischen Behörden und Krankenkassen deutliches Verbesserungspotenzial im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Wiederholt fällt dabei auch der KSV Sachsen auf. Gerade die Institutionen, die für die Selbstbestimmung und menschenrechtswürdige Behandlung von Menschen mit Behinderungen sorgen sollen, verhindern diese, oftmals aus Gründen der „Wirtschaftlichkeit“ und „Sparsamkeit“. Die Beiträge legen jedoch nahe, dass es auch an Empathie mangelt. Ein Umdenken kann hier durch gezielte Sensibilisierung der Angestellten, intensives Monitoring und eindeutige Arbeitsanweisungen auf Grundlage der UN-BRK erfolgen. Auch die bereits genannte Maßnahme einer Untersuchung in den sächsischen Behörden ist denkbar. Die Vermittlung von grundlegendem Wissen über Behinderungen verschiedenster Art, v. a. auch über eher seltene oder unbekanntere Erkrankungen wie Taubblindheit oder Autismus, ist ein weiteres wichtiges Mittel, um öffentliche Stellen und Behörden behindertenfreundlicher und diskriminierungsfrei zu gestalten. Weiterhin müssen die langen Bearbeitungszeiten gekürzt werden.
Kommentare wie „da gerade Sachsen besonders restriktiv bei der Anerkennung von GdB (und deren Höhe) und Merkzeichen ist“ könnten dem Freistaat als Denk- und Handlungsanstoß dienen. Die LAG SH Sachsen geht daher davon aus, dass die Beiträge aus dem Beteiligungsportal in der Fortschreibung des Aktionsplans sichtbar berücksichtigt werden.
Autorin: Anne Hiecke, LAG SH Sachsen e. V.